Fragen einer lesenden Arbeiterin – Videopoesie

Wirst du auf mich warten, vor den Toren, die nicht die Babylons sind?
Lauern, kaum dass der Nachmittag meine Pforten geöffnet hat? Oder wirst du die letzen Minuten stürmen?

Den Morgen abwehrend, der schon den Schlüssel in der Hand hält?

Wird eine Nachtstunde dich zu mir spülen, eine Neugier, eine Ge- wissheit?
Wirst du die Flöte aus billigem Glas auf mein Wohl anstimmen? Wirst fordern, dass ich auf deines trinke?

Wirst du mir vorausgedachte Schmeicheleien zustecken?
Erwarten, dass ich dir meine schenke?
Wirst du mir folgen, in meine Diensthöhle?
Dorthin, wo es nie wirklich hell sein wird, egal, wie sehr meine Schu- he glitzern?

Willst du dir meinen Namen merken wollen?
Die selbstgetauften Silben, die dir noch weniger bedeuten als ich? Woran wirst du dich erinnern wollen?
An mein Schenkelzittern, mein spiegelndes Seufzen, mein erfrorenes Geschlecht?

Wirst auch du um meinen Passnamen betteln?
Mir einige Scheine mehr anbieten, für drei Sekunden Wirklichkeit? Wirst du erwarten, dass ich zur Mutter aller Kurtisanen bete?

Willst du Anbetung für dich alleine?
Wirst du an meine Stiefschwestern denken?
Die, die du lächeln gesehen hast auf überbelichteten Bildschirmen?

Kannst du es hören, das dunkle Echo deiner Vorgänger, das von meinen Wänden weint?
Wirst du mir, in seeliger Leere, dein Leid zustecken wollen? Oder dich, im Schweigen zurückgezogen, nach deiner Kleidung bücken?

Wenn du dann zwischen bekannteren Laken liegst, zerknüllt wie die meinen, wirst du dann zum Telefon greifen?

Den Chor deiner Gleichgelüsteten aufrufen?
Wirst du mir eine Bewertung gönnen?
Meinen Lippen Zahlen zuweisen, meinen Schenkeln, meinem gut gespielten Seufzen?

Wen werden deine Worte zu mir spülen? Wer ist die nächste, die du wählst?

Text zur Videoperformance im Rahmen von Schriftinien, April 2019, Literaturhaus Wien

Erschienen in der Anthologie Schriftlinien, edition v, 2020