Die Serpentinen hinauf

Die Serpentinen hinauf

 

Eine junge Frau aus der Ebene. Ein Dorf, hoch oben in den Bergen. Ein offenes Grab. Ein unbekannter Erzeuger

 

Figuren:

Junge Frau

Tote Frau

Der Mann aus den Bergen

 

ANKUNFT 

Junge Frau: Es ist ganz früher Abend, noch hell, es ist bewölkt, und meine Ankunft ist nicht unbemerkt geblieben. Ich habe mich schon herumgesprochen, unter den Angewurzelten im Ort.

Stimme der toten Frau: Sie haben mich höchstens zur Kenntnis genommen, mich.

Junge Frau: Sie nehmen mich zur Kenntnis, grad, dass sie mich nicht grüßen, feierlich, Vorhänge werden fast wie verstört vor Fenstern weggezupft,

Stimme der toten Frau: was zu erwarten war

Junge Frau: Umrisse tauchen für Sekundenbruchteile aus dem Fastdunkel der Stuben auf, manche glatt und flach, andere gefaltet wie die Bergkette über dem Hier und Jetzt. Die guten Leute des Dorfes müssen gar nicht wissen, wie ich aussehe, das machen die Zellkerne der Geflüchteten für mich.

Stimme der toten Frau: Heimkehr unter Schafe

Junge Frau: das machen die Zellkerne der Geflüchteten für mich. Ich bin den Uranwohnern hier wesentlich vertrauter als sie mir, die entlaufene Kleine gegen die unbekannten Wurzeln, ich habe mir vom Gemeindeamt einen Lageplan zufaxen lassen, nicht dass es nötig gewesen wäre,

Stimme der toten Frau: Google Maps kennt selbst die hintersten Winkel vom Jenseits

Junge Frau: und von hier oben sowieso.

Zäh war es trotzdem. Ich habe den Führerschein jetzt zwölf Jahre, aber ich bin noch nie solche Serpentinen gefahren.

Stimme der toten Frau: Das unruhige, zackige Asphaltband schraubte sich nach und nach in Richtung oben durch die Tannenspitzen, fast bis hinauf zur Baumgrenze

(gehen ins Café)

Junge Frau: genau wie sie es beschrieben hat.

Stimme der toten Frau: Links Steilwand, rechts Abgrund,

Junge Frau: hinten unsere Vergangenheit und oberhalb von mir eine Ewigkeit, die nicht die meine ist. Verlockend ist das nicht.

Ich steige aus, lehne mich an die Wagentüre und warte. Ich bin fast ruhig, resigniert,

Stimme der toten Frau: nur keine Schwäche zeigen, das können sie riechen.

Junge Frau: Wie auf ein Stichwort kommen aus der Gaststube, alle, sämtliche älteren Kerle, wie auf dem Egger-Lienz Bild von diesem Aufstand, sie nahen, und bilden einen Kreis rund um mich, rund um mein Auto, bohren, wie ich finde, mit dunklen Augen wohlmeinende Risse in den Raum rund um meine Anwesenheit, beanspruchen mich für sich hier. Sie tragen die Trachten, die ich nie gesehen habe, sie hat alle einst mitgenommenen Bilder von ihnen verbrannt.

Stimme der toten Frau: Ich hab hier oben noch nie Luft bekommen.

Junge Frau: Jeder von ihnen könnte derjenige sein, welcher, ich habe keinen Hinweis, jeder im Kreis, aber vielleicht ist er auch schon in der Erde des Kirchhofs, da, auf der leisen Anhöhe über dem Dorf, unter geschmiedeten Kreuzen, dort, wo sie nie sein wollte, jetzt aber trotzdem für immer ruhen wird. Vielleicht ist er entschlafen und das ist sogar besser so, das kann ich nicht sagen. Einer von ihnen tritt aus dem Kreis, nach vor, zu mir, er ist groß, steif, und etwas eckig.

Der Mann aus den Bergen: Du bist sie also,

Junge Frau: sagt er, und legt mir die sehnige Hand auf die Schulter.

Der Mann aus den Bergen: Komm.

(sie gehen die Treppe hoch)

 

 

IN DER STUBE

Junge Frau: Ich stehe in seiner Stube, er hat die dicke Holztür hinter mir geschlossen und sieht mich jetzt an. Er spricht nicht, er steht nur da, und schaut.

Stimme der toten Frau: Du hast meine Lippen

Der Mann aus den Bergen: Du hast meine Lippen

Junge Frau: sagt er irgendwann. Finde ich nicht, sage ich, und bedecke meinen Mund. Wir schweigen.

Der Mann aus den Bergen: Du siehst jünger aus, jung, altern die Mädchen bei euch in der Stadt nicht?

Junge Frau: Dann nimmt er meinen Koffer und verschwindet. Ich bin wohl angekommen.

Stimme der toten Frau: Heimkehr ist ein Werden unter Druck.

Junge Frau: Ich sitze in der Stube, alleine, warte, und weiß nicht genau, worauf. Der Raum selbst gibt mir keine Geheimnisse preis, sträubt sich davor, sich lesen zu lassen. Neben der Abwasch trocknen einige Tassen, die aus jedem Möbelhaus des Universums stammen könnten, ihrer Verwendung entgegen, der Fernseher auf der Kredenz scheint wohl älter als ich, scheint seine gesamte Existenz lang vor sich hin zu verstauben, in der Ecke ein Kruzifix, das wohl eher aus Gewohnheit hier hängt, das kreidene C+M+B über der Stubentür kaum zu lesen, nur die Jahrszahl ist aktuell, zwei fastweiße Symbole auf ewigem Holzdunkel.

Der Mann aus den Bergen: Ich bin hier das, was hier immer schon war.

Junge Frau: Die wenigen Zeitschriften auf der Kommode sind gefüllt mit Landwirtschaftlichem, ich habe ihre Existenz nie wahrgenommen, geschweige denn sie gelesen.

Stimme der toten Frau: Was sollen wir hier, unter Schafen?

Junge Frau: Das Ticken der Uhr nimmt sich mehr und mehr Raum. Andere Geräusche weigern sich, durch Stein und Holz durchzudringen, ihre Abwesenheit lässt dieses Tick, Tick noch stärker gegen meine Kopfwände prallen, und jetzt ich spüre sie, die Stille, diese alles verschlingende, still stehende, ewig währende Ruhe in der Luft, von der sie immer erzählt hat.

Stimme der toten Frau: Das Nichts hört sich leiser an in der Ebene.

Junge Frau: Die nicht vorhandenen Spuren ihrer, seiner, meiner Anwesenheit jagen durch den Raum.

Stimme der toten Frau: Er hat mich höchstens zur Kenntnis genommen.

Junge Frau: Haben sie sich in dieser Stube gehabt, auf dieser Eckbank, dem Tisch, die hier vermutlich schon ein oder zwei Jahrhunderte stehen? Wo ist der Anfang meines Lebens, in dieser Stube, in einem der Zimmer im oberen Stock, in einem der anderen, unbekannten Häuser? Wo hat er sich gebildet, dieser winzig kleine Fleck

Stimme der toten Frau: unter meinem Nabel

Junge Frau: unter ihrem Nabel? Ich sehe, suche weiter, frage, finde wenig bis nichts. Fotografien erlaubt er sich nicht, die Wände stehen kahl, der Kalender neben dem Telefon in der Ecke schon einige Jahre alt, und unberührt, wie es scheint

Der Mann aus den Bergen: hier oben bestimmt der Jahreskreis den Tag

Junge Frau: wohl mehr als irgendwelche Termine. Der Kalender enttäuscht mich mit seiner Leere, keine Bemerkungen, die Rückschlüsse keimen lassen, keine Arzttermine, kein Hinweis auf Behördengänge, nichts. Ein Kuvert mit seinem Namen, ich denke, dass es seiner ist, ein Name, wenn auch ein fremder, noch nie gehörter, aber immerhin.

Der Mann aus den Bergen: Sie hat von der Ebene gesprochen. Wenige Male war sie unten. Jede Rückkehr hierher war schwerer für sie.

Junge Frau: Ob er wohl Bilder in seinem Schlafzimmer hat, irgendwelche festgehaltenen Erinnerungen? Es widerstrebt mir, hinaufzugehen, die Türe zu öffnen, in das allerinnigste Reich einzudringen. So bleibt mir nur das Raten, meine Vorstellungskraft funktioniert nicht wirklich, nicht hier oben, nicht in den letzen vierzig Stunden, nicht seit den Wochen davor

Stimme der toten Frau: nicht denken, Mädchen

Junge Frau: ich versuche, sein Bild mit dem eines der wenigen jungen Männer zu vertauschen, die ich unterwegs gesehen habe, es will mir nicht und nicht [Tick] gelingen. Hinter fahrtmüden, abschiedsmüden Augen vereinigt sich der Alte mit ihrem scheidenden, ausgedünnten Selbst, dann immer noch er, wie er jetzt ist, wie ich ihn gerade für dieses eine Mal in  mein Leben gelassen habe, mit ihrer Jugend, mit der Fassung, die von hier geflohen ist, die sich auf den ersten Fotos findet von der Ebene.

Junge Frau: Alter und Junge.

Junge Frau: Alter und Siechtum.

Junge Frau: Egal wohin. Hinaus. Ich lasse das Bisschen, dass mein Handgepäck ist, hinter mir, soll er mich doch suchen, die werden ihn zu mir leiten, so groß ist der Ort nicht, und ich habe nicht vor, seine Ränder zu verlassen, zu unbekannt ist mir das Umfeld.

 

(…)