Lukas, Kapitel 15, Vers 11-32

(c) Rhea Krcmarova
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Lukas, Kapitel 15, Vers 11-32

(Auszug. Veröffentlicht in der Anthologie Berg und Tal des Ötztal Literaturwettbewerbes 2008. UA der erweiterten, dramatisierten Fassung „Die Serpentinen hinauf“, Lokaltheater Wien, 2017)

(…)

Seit sie mit mir geflohen ist, suchen wir die Weite, dabei war ich bei ihrem Exodus nur ein winzigkleiner Fleck unter ihrem Nabel. Ich bin, wir sind, sagte sie jedenfalls immer, Fläche, Öffnung, Leere, wir beiden sind die Endlosigkeit, sind doch Planen, Felder, Ebene.

Wegen mir, sagte sie, ist sie gegangen. Wegen ihr, weiß ich, bin ich gekommen. Sie hat immer schon das bekommen, was sie wollte.

 

Ich stehe jetzt also genau im Schussfeld, im Fokus, im innersten Zirkel des Bergkessels, im Epizentrum des Ortes, und fühle mich genau so, wie wir es uns erwartet haben. Heimkehr, hat sie immer gesagt, ist flicken, was nur zerrissen werden muss, ist weich werden unter Druck, und außerdem, was sollen wir hier, unter Schafen?

 

Es ist ganz früher Abend, noch hell, es ist bewölkt, und meine Ankunft ist nicht unbemerkt geblieben. Ich habe mich schon herumgesprochen, unter den Angewurzelten im Ort. Sie nehmen mich zur Kenntnis, grad, dass sie mich nicht grüßen, feierlich, Vorhänge werden fast wie verstört vor Fenstern weggezupft, Umrisse tauchen für Sekundenbruchteile aus dem Fastdunkel der Stuben auf, manche glatt und flach, andere gefaltet wie die Bergkette über dem Hier und Jetzt. Die guten Leute des Dorfes müssen gar nicht wissen, wie ich aussehe, das machen die Gene der Geflüchteten für mich. Ich bin den Uranwohnern hier wesentlich vertrauter als sie mir, die entlaufene Kleine versus die unbekannten Wurzeln, ich habe mir vom Gemeindeamt einen Lageplan zufaxen lassen, nicht dass es nötig gewesen wäre, Goolge Maps kennt selbst die hintersten Winkel vom Jenseits, und von hier oben sowieso.

 

Zäh war es trotzdem. Ich habe den Führerschein jetzt zwölf Jahre, aber ich bin noch nie solche Serpentinen gefahren. Das unruhige, zackige Asphaltband schraubte sich nach und nach in Richtung oben durch die Tannenspitzen, fast bis hinauf zur Baumgrenze, genau wie sie es beschrieben hat. Links Steilwand, rechts Abgrund, hinten unsere Vergangenheit und ober mir eine Ewigkeit, die nicht die meine ist. Verlockend ist das nicht.

 

Ich steige aus, lehne mich an die Wagentüre und warte. Ich bin fast ruhig, resigniert, nur keine Schwäche zeigen, das können sie riechen. Wie auf ein Stichwort kommen aus der Gaststube, alle, sämtliche älteren Kerle, wie auf dem Egger-Lienz Bild von diesem Aufstand, sie nahen, und bilden einen Kreis rund um mich, rund um mein Auto, bohren, wie ich finde, mit dunklen Augen wohl meinende Risse in den Raum rund um meine Anwesenheit, beanspruchen mich für sich hier. Sie tragen die Trachten, die ich nie gesehen habe, sie hat alle bestehenden Bilder von ihnen verbrannt. Jeder von ihnen könnte derjenige sein, welcher, ich habe keinen Hinweis, jeder im Kreis, aber vielleicht ist er auch schon in Erde des Kirchhofs, da, auf der leisen Anhöhe über dem Dorf, unter geschmiedeten Kreuzen, dort, wo sie nie sein wollte, jetzt aber trotzdem für immer ruhen wird. Vielleicht ist er entschlafen und es das sogar besser so, das kann ich nicht sagen. Einer von ihnen tritt aus dem Kreis, nach vor, zu mir, er ist groß, steif, und etwas eckig. Du bist sie also, sagt er, und legt mir die sehnige Hand auf die Schulter. Komm.

 

Ich stehe in seiner Stube, er hat die dicke Holztür hinter mir geschlossen und sieht mich jetzt an. Er spricht nichts, er steht nur da, und schaut. Du hast meine Lippen, sagt er irgendwann. Finde ich nicht, sage ich, und bedecke meinen Mund. Wir schweigen. Du siehst jünger aus, sagt er, jung, altern die Mädchen bei euch in der Stadt nicht? Dann nimmt er meinen Koffer und verschwindet. Ich bin wohl angekommen.

 

Der Morgen des kommenden Tages ist um nichts besser. Ich sitze da, fühle mich wie zerborsten, habe, halb ohnmächtig, halb nach Luft suchend, mich zwischen uralten Zirbenteilen gewälzt, den guten Mond durch das kaum vorhandenen Fenster angeheult, sozusagen, und jetzt habe ich mich hinter meinem Laptop verbarrikadiert, nicht denken, Mädchen, nur nicht denken, ich versuche, zu vertrauen, auf die Kraft des Unverschiebbaren, des Mich-Zusammenzureißens, eine Deadline, bitte, kennt keine einsamen Bergdörfer, aber das Signal meines Modems durchdringt kaum die schweren Steine rings um mich, und die digitale Erlösung bleibt mir dieses Mal versagt. Er hat mir einen Kaffee hingestellt, mit Milch, ohne Worte, und ist seinem Tagewerk nachgegangen, was weiß ich wo, irgendwohin, wir treffen uns dann später. Ich bin mir nie im Leben loser vorgekommen, kaum weniger vorhanden, dabei stammt alles, was ich vorhabe zu sein im Grunde von diesem gottgeschaffenen Eckchen Felsen. Asche zu Asche, Staub zu Staub, Erde zu Erde, Fragen zu Fragen, und Berge zu Bergen? Und wie hat nur soweit kommen können?

 

Die Feier ist schlicht und ergreifend, alle in Tracht, und ich in Tränen, und dann ist sie vorbei. Sie wird ihr dunkles eisernes Kreuz bekommen, wie all die anderen vor ihr und nach ihr, und dann werde ich sie nie wieder sehen. Dort oben will ich nicht mal begraben sein, bitte, hat sie mir immer gesagt, und dann kam im Spital der Brief, das alles sei schon vorbereitet, und sie hat es geradezu hingenommen, was weiß ich schon von Abschieden. Der Pfarrer sang ihren Namen in jenem fremden Dialekt, der mir kaum vertraut ist, und dann ist ihr Körper zurückgekehrt zu den Ahnen, die sie mir immer vorenthalten wollte, und hat sich meinen Fragen auf ewig entzogen. Im Wirtshaus dann starrten mich alle an, höflich, die Entzogene, die Fremde, die so keine sein darf. Geredet haben sie wenig, worüber denn auch, aber jeder hat mir die Hand gereicht und etwas gemurmelt, zumindest, und jetzt löse ich mich vom Mann, bei dem ich geschlafen habe, und bereite mich vor zu gehen.

 

Du darfst auch bleiben, hat er mir gesagt, und dann wieder lange gar nichts mehr. Ich habe doch Heimweh, ist doch so, und werfe meinen Koffer recht heftig ins Auto, Sehnen nach der Ebene. Du bist kein Bergmädchen, sagt er, keine kleine Gämse, das hat man oder man hat es nicht, und dann bilde ich mir ein dass er lacht. Gämse, denke ich, sage ich, wie albern. Ich mag die Berge einfach nicht, du kennst sie nur nicht, sagt er, und dann finde ich mich mit ihm auf einem Wanderweg hoch über dem Dorf wieder (…)

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