Briefe anderer Frauen – und meine

(c) Rhea Krcmarova
(c) Rhea Krcmarova

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Briefe anderer Frauen – und meine

(Auszug. Erschienen in der Anthologie Briefgeheimnis des Allegra Literaturwettbewerbs).

(…)

Die frostdurchtränkte Luft weit nach Mitternacht schlägt mir um die Ohren und beißt mich ins Gesicht, während ich nach draußen renne. Über den Gehsteig, vorbei an frierenden Prostituierten, Panik bis ins letzte Fingerglied, bis in die Haarspitzen, Nachtluft um mich, keine Luft in der Lunge, Seitenstechen, ich renne quer über die Straße, egal wie, Hupen der Autos, laut, lauter, meine Tasche schlägt gegen meine Hüften, gegen meinen Bauch, fahrige, zitternde Finger versuchen, meinen Mantel zuzuknöpfen, den Schal irgendwie wieder um den Hals zu wickeln, ich habe, glaube ich, die Handschuhe vergessen, oder verloren, sagt mein aufgelöster Verstand, oder was davon noch übrig ist, den tiefen Berg hinunter Richtung Innenstadt, durch irgendeinem Park um die Ecke, meine Augen tränen, ist das die Luft oder bin das ich, die Schuhbänder offen, aber das spüre ich nicht, erst als ich falle und  der Asphalt und die Steinchen, die vom Winter übrig sind meine Knie aufstechen und den Unterschenkel darunter, und  meine Handflächen zerkratzen, aber ist nicht schlimm, nicht tief, nicht so schlimm, nein, gar nicht schlimm,  ich sammle panisch  mein Zeugs auf, dass mir aus der Tasche gefallen ist, die Taschentücher und die Wasserflasche bleiben liegen, und mein Labello,  und weiter, keine Pause, vorbei an Fassaden in Schönbrunnergelb, gespenstisch ohne Mond, der hinter den zu  kommenden Regenwolken lauert, und jetzt noch eine große Straße, stolpere über die Straßenbahngleise, die Straßenbahn fährt nicht mehr um diese Zeit, Gottseidank, noch einmal auf meine blutigen Knie, blutigen Hände, aber wenigstens nichts aufs Gesicht, mir reicht die Sache mit dem Treppenhaus, als ich gegen die Ecke gerannt bin im Dunklen, GottdaswirdeinblauesAuge, biege ein in eine vertrautere Gegend und dann immer  weiter, meine Stiefel zerstören die nächtliche Stille meiner Strasse, und dann lehne ich im Hauseingang, völlig aufgelöst, völlig hysterisch, Seitenstechen, die Haare überall und irgendwo, der lange Wollschal schleift über den Boden, mein BH ist völlig verrutscht, der Wickelrock will sich lösen, der Wollpulli kratzt die weiche Haut meines Unterbauchs, dort, wo der Rock sein sollte, wo normalerweise Rock ist, nur jetzt nicht, jetzt ist Chaos überall, und meine Beine geben nach unter mir, ich sinke ein, in mich zusammen, spüre die kalte Wand an meiner wunden Wange, und dann verliere ich kurzfristig meinen Verstand.

Ich weiß nicht, wie ich in die Wohnung gekommen bin. Ich liege in meinem Bett, in voller Montur, Decke überm Kopf, es ist heiß und stickig und riecht nach meiner Angst und den ungeweinten Tränen, aber wenigstens bin ich sicher. Hier sieht ER mich nicht. Hier sieht mich hoffentlich niemand.

Fahre hoch. Ist die Tür zu? Alle Schlösser?

Allein der Gedanke, das Bett zu verlassen, verlassen zu müssen, durch die dunkle Wohnung zur Tür, vorbei an den unheimlichen Schatten der Nacht, die die Dunkelheit in meine ganz persönlichen Gespenster verwandelt, stolpernd die Leiter vom Hochbett hinunter, die Füße schlitternd über den  spiegelglatten Fußboden, durch Wohnzimmer und Küche zur Tür…

Und Schritte am Gang. Die Angst wird über meinen Körper geworfen wie ein Netz, entsetzlich und rau, rau und entsetzlich, wie Glasscherben in meinen Becken, der Drang zu rennen und keine Luft…

Ich springe aus dem Bett, mein Kopf  erwischt fast die Zimmerdecke, falle mehr oder minder  die Leiter hinunter, Himmel und Hölle hinter mir her, der Mond greift nach mir mit seinen klebrigen Strahlen, die durchs Fenster fallen, durch die nächtliche Stille zur Tür, meine Hand fasst die Klinke, und die Tür kommt mir entgegen, das Geräusch, das sie macht, als sie gegen meinen Körper schlägt, ich liege am blaugrauen Küchenlinoleum, mein Kopf ist gegen das Kästchen geknallt beim Fallen, mein Hirn ist benommen vom Aufprall, mein Kopf tut weh,  so weh, kleine Lichter tanzen wie ein Haufen Lebensmittelmotten in meinem Blickfeld, und alles was ich sehen kann ist der Umriss seines Gesicht im Neonlicht, dass durch das Küchenfenster fällt.

Und ich kann nur daliegen und hoffen, dass alles schnell vorbei ist. Er ist da. ER ist in meiner Küche.

Wie konnte ich? Wie konnte ich nur so blöd sein, so ausgesprochen blöd, so hirnverbrannt blöd sein und die Tür offen lassen? War doch klar, dass er mir nach sein wird, dass er mich verfolgt wie er es offenbar schon die letzten Wochen getan hat. Und er weiß ja, wo ich wohne, er weiß es  aus den Briefen.

Seine Hand greift nach meinem Oberarm, er zieht mich in den Stand. Ich kann kaum stehen, mir ist schwindlig vom Fall, ich möchte mich erbrechen, würge irgendwie, spüre das Blut in meinem Mund, wie es aus meinen Lippen mein Kinn hinunterrinnt…

Du hast dir wehgetan, sagt er. Das wollte ich doch nicht. Seine Stimme… diese Stimme…es ist, als würde mir jemand Schnee hinten in den Ausschnitt eines Wollpullover stopfen, und es schmilzt etwas und rinnt langsam den Rücken hinunter, eisig und nass und matschig und vermischt sich mit dem Kratzen der nassen Wolle… mein Solarplexus schrumpft und zieht sich mit meinen Därmen zu einem kleinen Ball zusammen, der an einem dünnen Draht an meiner Kehle hängt und Richtung Erdinneres zieht.

Und er weiß es. Er weiß alles über mich…

Er drängt mich ohne Eile quer durch die Wohnung, zum Schlafzimmer, zum Bett. Zum Schreibtisch unter dem Bett. Nein, sage ich und halte mich am Türrahmen fest. Er löst meine Hand vom Türrahmen, leicht, als wäre das überhaupt kein Aufwand. Er lacht. Und ich habe in meinem Leben nie soviel Angst gehabt.

Ich hasse dich, sage ich. Ich habe dich, sagt er und lacht noch einmal, und dieses Lachen lässt mich die hässlichen Plomben in seinem Mund sehen die vorher noch gar nicht da waren, ich habe dich schon lange gehabt in meinem Kopf, und da sprichst du mit mir und tust all das, was ich dir sage, nicht wahr Prinzessin, denn ich habe den Schlüssel zu deinem Wesen und zu deinem Geist, und den Schlüssel hast du mir selber gegeben zu deinem Wesen, Prinzessin, und deswegen werde ich dich jetzt haben, sagt er und lehnt mich über den Tisch und diese Hand fährt unter meinen Rock und öffnet sich irgendwie gleichzeitig seine Hose und hält mir den Mund zu und drückt mir  die Luft ab und stößt  mich hinunter in den Stapel Briefe, die halb fertig auf meinem Schreibtisch liegen, vom Windzug und dem Flug in die Ewigkeit nur von einer zarten, fragilen  Kugel geschützt, in deren Innersten Blumen aus bunten Glas schlummern seit Anbeginn der Welt.

Ich bin welk wie eine Stabpuppe, deren Stäbe man zerbrochen hat. Gleich wird es das mit mir tun, was eine Frau nicht überlebt. Gleich wird er mich auslöschen wie die Hoffnung auf eine verwandte Seele, die seit unserer ersten  Begegnung in mir gewachsen ist. Gleich wird er mich so zerstören, dass ich mich nie wieder werde zusammensetzten können aus lauter verseuchten Scherben. Gleich werde ich sterben, und ich weiß nicht einmal warum.

Und dann spüre ich ihn, den  rauen Duft der ungeschriebenen Briefe in meinem Rücken, die parfümierten Kuverts, die meine tiefsten Geheimnisse hegen sollten und sie ihm angeboten haben zur beliebigen Verwendung, die Verräter; die ungeborenen Briefe, auf denen ich liege, deren Brüder  ihm mein Innerstes offenbart haben.

Und auf einmal denke ich an all das, was er für mich war.

Ich denke an all das, was ich geglaubt habe, dass er ist.

Ich denke an die Mappe mit meinem Namen, die ich in seiner Wohnung gefunden habe.

Und dann hebe ich den Briefbeschwerer.

(…)

Erzählung, in: Briefgeheimnis– Anthologie des Allegra Literaturwettbewerbs (Verlag Red Dress Ink)

ZURÜCK