Auszüge aus dem Großstadtgrimoire

Audio zu Auszüge aus dem Großstadtgrimoire auf poesiegalerie.at – Literadio Aufzeichnung der Performance bei der Poesiegalerie 2020

Manch einer der Bäume, die zwischen den Häuserreihen lauern, war schon da, bevor die Stadt geboren wurde, und wird noch da stehen, lange nachdem die Stadt untergegangen ist.

Wenn du den Weg verlierst, und zwischen Häusern, Straßen, Vierteln wandelst, die du noch nie gesehen hast, kämpfe nicht dagegen an. Bleibe nicht stehen. Geh weiter. Du wirst an Orte kommen, die du kennst. Irgendwann.

Die Augen, die dir von den Hausdächern aus folgen, sind die der Tauben. Oder auch nicht.

Respektiere die Leylinien, die unter den Durchgängen und Durch- fahrten verborgen liegen.

Jedes Haus ist ein möglicher Unterschlupf. Oder auch keines.

Gedenke der Flüsse, die unter deinen Füße flüstern. Vieler, vieler Flüsse.

Friedhöfe verstecken sich unter Orten, wo du sie am wenigsten ver- mutest. Unter Kindergärten. Kebabläden. Putzereien. Jeden Tag läufst du über vergessene Gebeine. Auf dem Weg zur Tram. Im Drogerie- markt. In deinem eigenen Flur. Wisse, wann du an sie denken darfst und wann nicht

Die Erinnerungen, die du dieser Stadt aufdrückst, sind kleiner, als du gerne hättest.

Du weißt nie, was in den hintersten Reihen und Gängen einer Biblio- thek herumlungert. Wobei, eigentlich weißt du es doch.

Mache Brunnen wollen dich in ihre rohrgefüllten Bäuche saugen und dich verschlingen. Nein, es sind nicht immer die alten, die großen, die würdigen.

Wasserspeier sehen aus gutem Grund garstig aus. Lass sie in Frieden. Geh weg.

Text zur Schriftlinien-Videoperformance im Literaturhaus Wien, April 2019

Erschienen in der Anthologie Schriftlinien, edition v, 2020